"Sport weckt Emotionen, die man anderswo nicht erleben kann" – Julie Cukierman

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Veröffentlicht am 05/04/22

Julie Cukierman bekommt immer noch strahlende Augen, wenn sie von der Zeit erzählt, als sie einige der größten französischen Medaillenhoffnungen auf die Olympischen Spiele in London vorbereitete – die französische Fechtnationalmannschaft und auch Frankreichs größtes Badminton-Talent, Pi Hongyan.

Julie ist trotz ihres jungen Alters eine der erfahrensten Sporttrainerinnen Frankreichs. Mit nur 25 Jahren wurde sie von den Verantwortlichen für den Spitzensport des Landes gebeten, die Vorbereitung einiger der besten französischen Sportlerinnen und Sportler für die Olympischen Spiele zu übernehmen. Aber da sie in einem sehr sportlichen Umfeld aufgewachsen war, wusste sie genau, was sie tat.

"Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Sport allgegenwärtig war", erinnert sie sich. "Meine Mutter war französische Meisterin im Kajak und mein Vater war Rettungsschwimmer. Beide liebten Tennis und waren ständig am Spielen, so verbrachten meine Schwester und ich praktisch unsere gesamte Freizeit am Rand eines Tennisplatzes."

Daher war es für sie selbstverständlich, selbst einen Tennisschläger in die Hand zu nehmen – und sie wurde gut darin. Sie gewann auch einen nationalen Titel in rhythmischer Sportgymnastik für Kinder unter 11 Jahren, konzentrierte sich dann aber auf Tennis. Doch ihr größtes Interesse lag stets darin, anderen zu helfen, ihr Bestes zu geben. "Ich wollte schon immer Fitnesstrainerin werden, um die besten Sportlerinnen und Sportler auf den Höhepunkt ihrer Karriere vorzubereiten", sagt sie.

‘Schwitzen, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe’

 

Julie studierte Sportwissenschaften an der Universität Orsay und ging dann ans INSEP, das französische Institut des Sports, der Expertise und der Leistung, um Expertin für die Vorbereitung von Körper und Geist auf Herausforderungen auf höchstem Niveau zu werden. "Ich wurde gebeten, das Fechtteam zu betreuen, das zu diesem Zeitpunkt Olympiasieger im Degenfechten von Peking 2008 war. Und das Babolat-Team um Hongyan bat mich, ihr bei der Vorbereitung auf ihre letzten Olympischen Spiele zu helfen. Es war eine sehr große Herausforderung, denn ihr Körper war von all den Jahren harten Trainings in China in schlechter Verfassung und sie hatte gerade eine schwere Knieverletzung hinter sich."

Wie alle Sporttrainer konzentrierte sich Julie auf zwei Hauptziele: Verletzungen vorbeugen und sicherstellen, dass ihre Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit sind. "Es war eine unglaubliche Freude, sie während der sechs bis acht Monate zu begleiten", sagt sie. "Aber es war auch unglaublich harte Arbeit, mit viel Druck, denn es stand viel auf dem Spiel."

"Was Hongyan betrifft, so habe ich noch nie jemanden getroffen, der so hart arbeitet wie sie. Sie war ein echtes Monster, bereit, auf dem Platz oder im Fitnessstudio über ihre Grenzen hinaus zu gehen, sie hat auf dem Fahrrad geschwitzt, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Beim Training und beim Spielen hatte sie einen sehr starken Charakter und scheute sich nicht, mir zu sagen, wenn sie unzufrieden war. Dann musste ich meine Arbeit anpassen, wie ich es mit vielen Spitzensportlern tat – die meisten von ihnen haben ein großes Ego und eine sehr starke Persönlichkeit. Aber abseits des Platzes war Hongyan einfach die netteste und bescheidenste Person. Wir haben seit damals ein sehr gutes Verhältnis und stehen oft in Kontakt, auch 10 Jahre nach dem Ende unserer gemeinsamen Arbeit."
 

Raus aus der Hektik von Paris

 

Auch dank Julies harter Arbeit erreichte Hongyan das höchste Niveau, das sie sich angesichts ihres ausgelaugten Körpers erhoffen konnte, und schaffte es in London unter die letzten 16. Auch wenn Julie nicht in London dabei war, beschreibt sie den gesamten Prozess der Vorbereitung von Hongyan und dem Fechtteam als außergewöhnlich. "Als junge Sportlerin durch ganz Frankreich zu reisen und später dann als Trainerin diesen fantastischen Athletinnen und Athleten nahe zu sein, das war schon unglaublich toll. Ich glaube, dass Spitzensport Emotionen weckt, die man nirgendwo anders erleben kann." 

Aber Julie interessiert sich nicht nur für den Spitzensport. Nachdem sie das INSEP verlassen hatte, half sie einer Reihe "normaler" Menschen, wieder in Form zu kommen, und sie ist überzeugt, dass jeder Sport treiben sollte, egal welchem Niveau. "Jeder Mensch sollte regelmäßig Sport machen", sagt sie. "Das ist wichtig für das körperliche und geistige Wohlbefinden. Sport sollte eine Lebenseinstellung sein. Wir sind alle so gestresst von unserer täglichen Arbeit und unseren Herausforderungen, dass wir vergessen, uns um uns selbst zu kümmern. In der Corona-Zeit haben einige Leute erkannt, dass sie sich eine Auszeit nehmen können, und ich hoffe, dass es ein langfristiger Weckruf sein wird."

Julie setzte ihre Arbeit mit Hongyan fort und entwickelte gemeinsam mit ihr eine Reihe von Tipps, mit denen man sein Badminton-Spiel verbessern kann. In Zusammenarbeit mit Babolat haben die beiden eine Video- und Textserie von 11 Tipps mit Übungen für Freizeitspielerinnen und -spieler erstellt, um die optimale Fitness zu erreichen – sie sind hier zu finden.

Julie hat die Hektik von Paris hinter sich gelassen und in Serre Chevalier im Herzen der französischen Alpen Ruhe gefunden. Dort kümmert sie sich um ihre beiden kleinen Kinder und organisiert manchmal mit einer Kollegin Sport- und Yoga-Retreats. Doch da ihr Mann Badmintontrainer in einem Verein vor Ort ist, sind Schläger und Federbälle immer noch ein wichtiger Teil ihrer Gespräche im Alltag ...